Vorträge





Kirchweihe, Hochwasser, Mord

Was erzählen Inschriften über die Geschichte der Stadt Halle?



Franz Jäger

Forschungsvorhaben "Die Deutschen Inschriften des Mittelalters und der Früheren Neuzeit" an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften

Titel




Meine sehr geehrten Damen und Herren,


Inschriften kennt jeder von Ihnen; sie begleiten unseren Alltag und überdauern unseren Alltag. Inschriften laden in den Biergarten ein, geben ein spontanes politisches Bekenntnis wieder, erinnern auch als Pflastersteine an Opfer politischer Verfolgung oder weisen den Weg

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Moderne Inschriften

nach Eisleben. Wie sie an diesen Beispielen sehen, können Inschriften auf den unterschiedlichsten Gegen ständen angebracht und können Inschriftenträger aus den unterschiedlichsten Materialien gefertigt sein. Alle Texte aber, die gedruckt oder handschriftlich zu Papier gebracht wurden, sind per definitionem keine Inschriften.
Sie sehen an diesen Beispielen auch, dass Inschrif-
ten aus vielfältigem Anlass entstanden sind, so z. B. anlässlich der Eröffnung eines Biergartens oder der Regulierung des Durchgangsverkehrs. Über diese und andere, auch wichtigere historische Ereignisse geben die Inschriften selbst und der Kontext ihrer Überlieferungsgeschichte Auskunft. Sie überliefern nahezu alles, was Menschen mitteilens- und bewahrenswert war.
Ihre Zeitgebundenheit macht die Inschriften zu historischen Quellen; sie werden deswegen systematisch gesammelt, wenn nötig in das heutige Deutsch übersetzt und mit einem Kom-
mentar veröffentlicht. Der Kommentar erläutert den Inhalt der Inschrift, der mitunter so sehr in seinen historischen Kontext eingeflochten ist, dass er sich dem heutigen Leser nicht ohne weiteres erschließt. Die Edition und Kommentierung der mittelalterlichen und neuzeitlichen Inschriften Sachsen-Anhalts wird an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig durchgeführt. Die Sammlung der Inschriften der Stadt Halle, die heute abend im Mittelpunkt stehen, wird demnächst abgeschlossen. Dabei wurden nur die in Mittelalter und Früher Neuzeit bis 1650 entstandenen Inschriften berücksichtigt.

Stammen die hier gezeigten Beispiele hallescher Inschriften aus jüngster Zeit, so zeige ich Ihnen jetzt Inschriften, die zu den älteren epigraphischen Denkmalen Halles gehören und eigentlich Gegenstand der Forschung sind. Ihr Informationsgehalt macht sie zu erstrangigen Quellen der Stadtgeschichtsschreibung.

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Dom

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Kreuzgang

Zu den Orten, die viele historische In-
schriften aufweisen, gehört der Ihnen allen bekannte Dom. Dort blieben Inschriften erhalten, die aus verschiedenartigen Anlässen entstanden und in ihrer zeitlichen Abfolge auch die Geschichte des Domes spiegeln. Der Dom war ursprünglich die Klosterkirche der Dominikanermönche von Halle. Ihr Kloster war im Norden an die Kirche angebaut. Heute ist davon nur ein Mauerzug mit Fenstern als Teil des ehem. Kreuzganges erhalten.
Die lateinische Inschrift aus dem Jahre 1484 berichtet darüber, das zur Zeit des Johannes Koxstedt aus Bitterfeld am Kloster gebaut wurde. Die in Stein gehau-
ene Inschrift bezeichnet Koxstedt als Frater, d. h. als einen Ordensbruder der Dominikaner, der Vorsteher des Klosters oder Leiter des Baues gewesen war. Aus mehreren vergleichbaren Bauinschriften wissen wir, dass es am Ende des Mittelal-
ters eine rege Bautätigkeit an den Klöstern der Franziskaner, Dominikaner und Serviten in Halle und am Stift der Augustinerchorherren vom Neuen Werk gegeben hat.

Im Jahre 1520 mussten die Dominikaner-
mönche das Kloster verlassen. Ihre Klosterkirche wurde zur Stiftskirche umgestaltet und durch den Erzbischof von Magdeburg, Kardinal Albrecht von Brandenburg, den Heiligen Mauritus und Maria Magdalena geweiht. Darüber berichten zwei ungewöhnlich aufwendige Denkmale mit lateinischen Weiheinschriften aus dem Jahr 1523, die in der Kirche angebracht sind und den Kardinal als Stifter würdigen. (Sie sehen hier die größere der beiden Weihetafeln.) Neben Albrechts Wappen sind die beiden Stiftspatrone, die Hll.

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Weihealtar

Mauritius und Maria Magdalena, abgebildet. Von der prächtigen Kirchenausstattung sind im Dom selbst außer den Weihetafeln noch Teile des Chorgestühls, die Kanzel und ein monu-
mentaler Skulpturenzyklus erhalten.

Nur zwanzig Jahre später wurde das berühmte Stift Albrechts wieder geschlossen und die Dominikaner konnten in ihr angestammtes Kloster zurückkehren. 1564 aber mussten sie Halle endgültig verlassen. Die ehemalige Klosterkirche blieb ungenutzt, bis sie 1589 als Hofkirche für die evangelischen Administratoren des Erzbistums Magdeburg wieder hergerichtet wurde. Nach dem Übertritt des Erzbischofs Sigismund von Brandenburg zur lutherischen Lehre verwalteten sogenannte Administratoren den weltlichen Besitz des Erzbistums, zu dem die Stadt Halle gehörte. Ihre Residenz war die Moritzburg in Halle.

Erste Zeichen einer neuerlichen Nutzung der ehemaligen Kloster- und Stiftskirche sind soge-
nannte Graffiti, Namenskritzeleien, die sich an Pfeilern und Wänden im Inneren der Kirche

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Grafito von 1598

befinden. Sie können von Handwer-
kern stammen, die sich an ihrer Wirkungsstätte verewigen wollten, oder von Kirchgängern, die sich während langweiliger Predigten die Zeit vertrieben, wie es vielleicht jener Nikolaus Rodomann im Jahr 1598 getan hat, dessen Graffito sie hier sehen. Vergleichbare Graffiti finden sich in allen älteren Kirchen Halles. Die leider schon seit Jahrhunderten zu beklagende Unsitte, überall den Namen hinzukritzeln, überlieferte uns in der Moritzkirche und der Marktkirche auch hunderte Namen von Kirchenbesuchern und gibt uns Hinweise auf die Nutzung der Kirchen.

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Innenansicht mit Epitaphe

Als Hofkirche erhielt der Dom neue Funk-
tionen: Er wurde auch Grabstätte und Ge-
dächtnisort für Höflinge, vor allem für sol-
che von Adel. Der Dom ist geradezu ein Schatzhaus der Grabkunst, denn in keiner anderen Kirche Halles haben sich so viele und so verschiedenartige Grabmäler des 17. und 18. Jh. erhalten wie hier. Die Auf-
nahme zeigt Ihnen die Nordempore, über der viele Epitaphien hängen. Zwei davon möchte ich Ihnen vorstellen.
Sie sehen hier das geschnitzte und mit fünf Gemälden geschmückte Epitaph der Hofjungfrau Hedwig Elisabeth von Rheden. Sie stand im Dienst der Gattin des Administrators. Das Epitaph, das vermutlich bald nach dem Tod der jungen Frau im Jahr 1619 angefertigt und angebracht wurde, trägt heute keine Inschrift mehr. Der aufgemalte Text ist abgeblättert und nur durch die Abschrift eines geschichtsinteressierten Pfarrers bewahrt worden.

Johann Gottfried Olearius hat die Inschrift im Anhang seiner Beschreibung des Stadtgottes-
ackers 1674 drucken lassen. Sie sehen einen Ausschnitt der Druckseite des Buches, auf der zwischen zwei Linien eine kurze Beschreibung des Epitaphs und die Inschrift steht. Durch

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Johann Gottfried Olearius und seinen Vater Gottfried Olearius, den Verfas-
ser der Halygraphia genannten Stadt-
beschreibung von Halle, sind sehr vie-
le längst untergegangene Inschriften überliefert worden. Und nur durch diese Überlieferung wissen wir, wer auf dem schönen Porträtgemälde des Epitaphs abgebildet ist. Sehr viel bedeutender als die Hofjungfrau von Rheden war der zur gleichen Zeit täti-
ge Hofkanzler Kilian Stisser, dessen Epitaph Sie hier sehen. Es hängt ebenfalls an der nördlichen Innen-
wand des Domes. Stisser ist 1620 gestorben und hat ein prächtiges aus verschiedenartigen Steinsorten bestehendes Epitaph bekommen. Der-

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artig aufwendige Epitaphien waren sehr kostspielig und sind daher eher selten anzutreffen. In Halle hat es vermutlich nur drei vergleichbare ge-
geben, von denen nur dieses erhal-
ten ist. Die lateinische Inschrift mit Namen, Lebensdaten und Verdiensten des verstorbenen Kanzlers Kilian Stisser befindet sich am unteren Ende des Epitaphs und ist in Stein gehau-
en. Sie berichtet u. a. davon, dass Stisser zweiundzwanzig Jahre für den Administrator Christian Wilhelm von Brandenburg tätig war und als Ge-
sandter den Kaiser und die Reichstage aufsuchte. Diese und andere Epita-
phinschriften überliefern z. T. sehr ausführlich die Ämterlaufbahn der Hofbeamten und lassen erkennen, welche persönlichen Erlebnisse als denkwürdig und welche Ämter als besonders ehrenvoll angesehen wurden.

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Im Dom befindet sich auch das Grabmal für Andreas von Gleißenthal, der 1636 als kur-
sächsischer Rittmeister allhier vor Hall von dem feinde ge-
schossen wurde, wie es in sei-
ner deutschen Grabinschrif. Es sind Grabmäler für sieben adlige Offiziere bekannt, die während des Dreißig-jährigen Krieges in schwedischen, kursächsischen und böhmischen Diensten standen und im Dom beigesetzt wurden. Die Hofkirche diente offenbar auch als Grablege für fremde Adlige, die während des Dreißigjährigen Krieges umka-
men. Für die anderen Kirchen Halles sind solche Begräbnisse nicht überliefert.


Am Beispiel des Domes haben wir verschiedene Inschriftenarten kennengelernt, nämlich Bau- und Weiheinschriften sowie Grabinschriften. Zur reichen Überlieferung kirchlicher Inschriften gehören auch Stiftungsinschriften wie die folgenden, die Stiftungen für die Moritzkirche betreffen.

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Die Moritzkirche ist seit ihrer Gründung im 12. Jh. Pfarrkirche. Bau und Ausstattung von Pfarrkirchen wurden in Mittelalter und Früher Neuzeit, sowohl vor als auch nach Einführung der Reformation in erheblichem Umfang durch private Stiftungen bestritten.

Im Jahre 1388 begann man mit dem Bau der großartigen, noch heute erhaltenen Kirche. An den Baubeginn erinnert eine längere, am Chor angebrachte lateinische Inschrift. Die umfangreiche sechszeilige Inschrift ist schon lange bekannt, wurde aber erst vor einigen Jahren richtig gelesen. Man entdeckte, dass der Bau mit einer Stiftung des reichen Pfänners Hamer Frunt finanziert wurde, dessen Namen ich hier markiere.
Die Lesung leistet einen wichtigen Beitrag zur Stadtgeschichtsschreibung, denn sie beweist die bislang nur vermutete Beteiligung der Pfänner am Neubau der Moritzkirche. Die Inschrift nennt den Stiftungszweck und die Stiftungsverwalter, Conrad von Einbeck und Peter von Morl, die für eine ordnungsgemäße Verwendung der Stiftungsmittel einstanden.

Die zweite, wesentlich bescheidenere Stiftung für die Moritzkirche, die ich Ihnen vorstellen möchte, umfasst einen Kelch, den der evangelische Pfarrer Lukas Rudolph 1633 seiner Kirche

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übergab. Er ließ einen spätmittelalterlichen Messkelch umarbeiten, dessen Mittelteil, der sogenannte Nodus, wiederverwendet wurde. Daran befindet sich eine typisch vorreformatorische, d. h. katholische Anrufung der Gottesmutter Maria. Dort steht: maria hilf.
Unter den Fuß des Kelches ließ Lukas Rudolph eine am Rand umlaufende lateini-
sche Inschrift anbringen, die das geschicht-
liche Verständnis und kirchliche Selbstbe-
wusstsein des evangelischen Pfarrers deut-
lich macht. Man kann lesen, Lukas Rudolph habe „diese papistische Hinterlassenschaft (spolium pontificium) zum frommen Geb-
rauch für das sonntägliche Abendmahl ge-
wandelt“. Rudolph wusste offenbar, dass der Messkelch aus vorreformatorischer Zeit stammte und nutzte die Gelegenheit dieser Inschrift für konfessionelle Polemik. Die Ereignisse der Zeit, des Dreißigjährigen Krieges, gaben ihm zweifellos einen Anlass. Als Halle 1630 von Truppen des katholischen Kaisers besetzt wurde, befürchtete man das Schlimmste für die evangelischen Gemeinden der Stadt. Um sich von der eucharistischen Praxis der vorreformatorischen, d. h. der katholischen Kirche abzugrenzen, weist der Stifter des Kelches, Lukas Rudolph, darauf hin, dass der Kelch nun erst in pium usum, in einen frommen, gottgefälligen, rechten Gebrauch überführt worden sei, indem Lukas ihn der evangelischen Abendmahlsfeier widmete.

Der reformatorische Umbruch spiegelt sich auch in Inschriften außerhalb der Kirchen, so z. B. am Rathaus, dem Zentrum der Stadtgemeinde. In dem ehemals am Markt gelegenen, im Zweiten Weltkrieg teilzerstörten und nach dem Krieg abgerissenen Rathauskomplex war die

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dem Kreuz Christi geweihte Ratskapelle integriert gewesen. An der Westseite der Kapelle bzw. der Nordwestecke der Rathausfassade stand die Steinskulptur der hl. Helena. Die Heilige wurde in Zusammenhang mit dem Kreuz Christi verehrt, weil sie das Kreuz in Jerusalem aufgefunden haben soll.
Am Saum ihres Gewandes ist eine Inschrift eingehauen, die den Zweck der Heiligenverehrung deutlich macht. Sie können den Anfang der Is. auf dem linken Bild lesen: SANTA LENA ORA PRO NOBIS (Hl. Helena, bitte/bete für uns.). Helena wurde angerufen, damit sie vor Gottvater und dem Gottessohn für das Wohlergehen und das Seelenheil der Gläubigen, d. s. die Ratsherren und alle Einwohner der Stadt, bitten sollte. Auf den Beistand der Heiligen glaubte man sich in vorreformatorischer Zeit angewiesen; auch die Ratsherren mochten auf den Beistand der heiligen Helena nicht verzichten.

Eine lange Wirkung war der in Stein gehauenen Anrufung der Heiligen allerdings nicht be-
schieden, denn nur vier Jahrzehnte nach Aufstellung der Skulptur wurde die Reformation in Halle eingeführt und die herkömmliche Heiligenverehrung beendet. Justus Jonas, der Refor-
mator der Stadt Halle, war 1541 direkt aus Wittenberg, dem Zentrum der Reformation, gekommen. Sein Nachfolger Sebastian Boetius war ebenfalls evangelisch gesinnt und am-

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tierte bis zu seinem Tod 1573 als Oberpfarrer an der Markt-
kirche und Superintendent von Halle. Ihrer beider Bildnisse haben sich bis heute in der Marienkirche erhalten. Es ist wohl der hohen Bekanntheit der Geistlichen zuzuschreiben, dass ihre Porträts ursprünglich keine Namensbeischriften trugen. Etwa einhundert Jahre spä-
ter aber, als die Erinnerung an sie zu verblassen begann, hat man – dem paläographischen Befund nach zu urteilen – ihre Bildnisse mit den Namen be-
schriftet. Wäre das nicht ge-
schehen, wüssten wir heute nicht mehr, wen die Bilder darstellen. Kopien der Porträts hingen im Rathaus, an dessen Fassade immer noch die Skulptur der von der evangelischen Lehre entmachteten heiligen Helena stand.
Darüber hinaus gab und gibt es am Rathaus und an den Bürgerhäusern der Stadt viele In-
schriften, die in einem bürgerlichen, mehr oder minder profanen Zusammenhang entstanden.

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Dazu gehören Hauszeichen und Hausinschriften wie z. B. jene, die der Kaufmann und Ratsherr Lorenz Prellwitz 1471 an seinem Haus, dem Goldenen Schlösschen in der Schmeerstraße, anbringen ließ. Der Pfeil weist auf sie hin.
Sie sehen eine Großaufnahme der Inschrift mit zeilenweiser Transkiption des Textes. Prellwitz begann 1471 einen Neubau und ließ das Jahr des Baubeginns sowie die Namen des zu der Zeit herrschenden Papstes Paul II., des Kaisers Friedrich III. und des Stadtherrn, des Erzbischofs von Magdeburg, Johann von der Pfalz-Simmern, anbringen. Mit dieser ungewöhnlichen Hausinschrift setzte Prellwitz seinen privaten Hausbau in einen großen, geradezu weltgeschichtlichen Zusammenhang, denn die Regierungszeiten höchster geistlicher und weltlicher Würdenträger waren im Mittelalter gebräuchliche Zeitrahmen zur epochenmäßigen Einordnung und Erinnerung historischer Ereignisse.
Einen gänzlich anderen Anspruch hat das Hauszeichen mit Inschrift von Marktplatz 6, das 1606 gefertigt worden ist. Das Haus ist nicht erhalten, das steinerne Relief wird in der

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Moritzburg aufbewahrt. Das Haus-
zeichen bildet den hl. Christophorus ab, nach dem das Haus benannt war, und gibt einen Spruch wieder, der an die Endlichkeit irdischen Strebens gemahnt und zur Vorsorge für den Tod und das Ewige Leben auffordert.

Weitere Hausinschriften des 16. Jh. haben sich noch an den Häusern Alter Markt 7 und Rannische Straße 17 erhalten. Am Portal des Hauses Rannische Straße 19 steht der in vielen Varianten verbreitete Spruch: Dies Haus steht in Gottes Hand,zu der Goldenen Rosen ist es genannt.
Auch im Inneren der Privathäuser befanden sich Inschriften.

In dem Renaissancehaus Rannische Straße 9 traten bei Restaurierungs-
arbeiten fragmentierte lateinische Inschriften zutage, die in der Frühen Neuzeit an die Wände der Halle im Erdgeschoß gemalt worden waren. Die ältere (oben) entstand zusammen mit der ornamentalen Raumfassung in der zweiten Hälfte des 16. Jh., die jüngere (unten) im späten 16. oder im frühen 17. Jh. Während die Fragmente der älteren noch nicht gedeutet werden konn-
ten, ließ sich die jüngere als Bibel-
zitat identifizieren. Es handelt sich um Psalmenverse mit der Anrufung Gottes aus dem Alten Testament. Fragmente einer Wandinschrift haben sich auch in einem anderen privaten Gebäude, in dem Haus Marktplatz 23 erhalten. Wandinschriften religiösen und profanen Inhalts waren Bestandteil der Wohnkultur gehobener Bevölkerungschichten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Sinnenfroher als die eben vorgestellten Inschriften sind jene, die ich Ihnen jetzt zeigen will. Es handelt sich um Tafelbilder der fünf Sinne, alle personifiziert als halb entblößte junge

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Frauen, die im Erker der sogenannten Feststube des ehemaligen Talamts zu sehen sind. Zur besseren Identifizierung sind die Gemälde in lateinischer Sprache beschriftet: Sie sehen rechts den Geruchsinn, bezeichnet mit OLFACTUS. Die Raumausstattung mit den Gemälden stammt zwar aus einem öffentlichen Gebäude, gleicht aber Raumausstattungen privater Festräume. Die fünf Sinne boten sich einer genußfreudigen Festgesellschaft als Allegorie ihres sinnlichen Erlebens dar. Das Talamtszimmer entstand vermutlich in der Mitte oder im dritten Viertel des 17. Jh.

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Weit weniger erfreulich waren jene Ereignisse, an die folgende Inschriften erinnern. Ich zeige Ihnen einige der datierten Hochwassermarken, die an der Südwestecke der Neu-
mühle angebracht sind. Das Mühlengebäude ist einer Inschrift zufolge 1582 erbaut worden und stand vermutlich schon drei Jahre später zum ersten Mal unter Wasser.Aus diesem Jahr ist die älteste Hoch-
wassermarke. Sie be-
steht wie auch alle jünge-
ren aus einem Strich, der den höchsten Wasserstand angibt, und dem Datum. Insgesamt befinden sich an der Mühle außen und innen 22 Hochwassermarken, die letzte aus dem Jahr 1827. Der höchste, inschriftlich fixierte Wasserstand war 1658 erreicht, als die Neumühle etwa 2,80 m unter Wasser stand. Die Hochwassermarken lassen erkennen, wann Halle im Jahreslauf am häufigsten von Hochwasser heimgesucht- wurde: Es geschah vorzugsweise in den Monaten Februar und März sowie Juni und August. Auch andere, an der Saale gelegene Baulichkeiten trugen Hochwassermarken, so z. B. das im 19. Jh. abgerissene Moritztor. Dort gab es eine lateinische Inschrift aus dem Jahr 1595, die übersetzt lautete: „Eine Überschwemmung, die größer war als diese, hat es in der Erinnerung der Menschen nicht gegeben. “ Die oberste Marke links neben dem Fallrohr zeigt den Hochwasserstand des Jahres 1595 an der Neumühle an. An anderen Hochwassermarken können wir jedoch ablesen, dass es noch schlimmer kommen sollte.

Ein Anlass zur Schaffung von Inschriften war der Tod eines Menschen, sofern er soviel Vermögen oder wohlhabende Verwandte hinterließ, dass ihm beschriftete Grabmäler aus Holz oder Stein gewidmet werden konnten. Wir sahen schon, dass viele und prächtige

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Epitaphien im Dom erhalten sind .Die meisten neuzeitlichen Grabmäler barg einst aber der hallische Stadtgottesacker. 92 der Bögen, die den Friedhof umgeben, waren in Besitz vermögender Familien gewe-
sen, die ihre Angehörigen in Grüften unter den Bögen beisetzten. An den Bögen befinden sich die Namen und Wappen der Bauherren und Besitzer; unter den Bögen lagen Grabplatten, standen und hingen Epitaphien.
Zu den erhaltenen Grabmälern gehört das für den 1591 verstorbenen Apotheker Joachim Büttner. Es stand einst unter dem Bogen 73 und befindet sich heute in der Moritzburg. Die die Platte umlaufende Inschrift berichtet, dass er wie jener Offizier, der im Dom begraben wurde, auf gewaltsame Weise zu Tode kam.

Ich zeigen Ihnen einen Ausschnitt der Platte mit dem Sterbevermerk. Um 11 Uhr nachts sei Büttner LETALITER A PHILIPPO BVCHAMER VVLNERATVS (von Philipp Buchhammer tödlich verwundet worden) und STATIM IN CHRISTO OBIIT (auf der Stelle in Christus verstorben).

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Der Vorfall muss so aufsehenerre-
gend gewesen sein, dass man den gewalttätigen Buchhammer namentlich nannte, obwohl in Grabinschriften Dritte nur selten in einem abwertenden Sinne erwähnt wurden. Zurückhaltung wäre umsomehr geboten gewesen, als Buchhammer kein Straßenräuber, sondern Angehöriger einer angesehenen ratssässigen Familie gewesen war. Leider wissen wir bislang nichts genaueres über den Vorfall. Beim Begräbnis Joachim Büttners haben gewiss – wie üblich – Glocken geläutet. Wäre er auf dem Friedhof der Hallischen Vorstadt Neumarkt beigesetzt worden, dann hätte diese Glocke geläutet, die sie hier sehen. Sie wurde 1467 gegossen und über fünfhundert Jahre lang bis zum Brand der Neumarkter Laurentiuskirche 1984 geschlagen. An der Glocke befindet sich eine umlaufende Inschrift, die in der Form einer sogenannten Glockenrede die Funktion der Glocke benennt: consolor viva, fleo mortva, pello nociva (Ich tröste, was lebendig, beweine, was gestorben, und vertreibe, was schädlich ist.). Daraus geht hervor, dass die Glocke bei Tod und Begräbnis und vermutlich auch zur Abwehr drohender Unwetter geläutet wurde. Dass das Glockenläuten helfen könne, aufziehende Unwetter abzuwenden, ist ein alter Aberglaube, der sich bis weit in die Neuzeit hinein gehalten hatte. Außer dieser Glocke besaß die Pfarrkirche des Neumarkts, St. Laurentius, noch weitere Glocken, die bei anderen Gelegenheiten geläutet wurden. Eine Verteilung von Läutefunktionen auf mehrere Glocken ist bis heute üblich.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, abschließend zeige ich Ihnen ein buntes Tableau, auf dem Sie Inschriftenträger und Inschriften aus der Stadt Halle sehen, über die ich heute

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nicht sprechen konnte, die aber mit einer Ausnahme (das Porträt links unten) öffentlich zugänglich sind. Ich fordere Sie auf, diese Inschriften selbst zu entdecken und sich mit ihrem mal verborgenen, mal offen-
kundigen Sinn zu beschäftigen. Inschriften dokumentieren Baudaten und Nutzungsgeschichte von Kirchen und anderen Gebäuden, biographisches über historische Persönlichkeiten, aber auch Glauben, Weltsicht und Brauchtum vergangener Generationen. Je älter Inschriften sind und je geringer die Parallelüberlieferung in zeitgenös-
sischen Quellen wie Urkunden und Chroniken ist, desto höher ist der Informationsgehalt der Inschriften zu veranschlagen. Sie bilden eine der wichtigsten Quellengattungen zur Erforschung unserer Vergangenheit – die in vielem bis heute fortlebt.


Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


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